Ivanovo liegt knapp 300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Mit 448.000 Einwohnern ist es die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks, der 1,1 Millionen Bewohner hat. Aus dörflichen Strukturen entwickelte sich die Region seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der russischen Textilindustrie. Die Arbeiterbewegung in den Städten des Bezirks war stark. Zwischen 1920 und 1980 wuchs die Bevölkerung rasant.
Nach 1990 aber wurde der Industrie die Monostruktur zum Verhängnis. Wie zahlreiche andere Betriebe wurde auch Ivanovos große, voll automatisierte "Textilfabrik 8. März" stillgelegt; in ihre Hallen zog eine Shopping Mall. Heute ist die teils offene, teils verdeckte Arbeitslosigkeit hoch. Die Zahl der zumeist in großen, industriell produzierten Siedlungen lebenden Bewohner sank um 5,8 Prozent. Aus manchen Städten und Dörfern der Umgebung zog sogar fast ein Fünftel der Menschen fort.
Mitte der 1990er mussten sich knapp zwei Drittel der Städter durch den Garten ihrer Datscha versorgen. Junge Leute, vor allem die mit besserer Ausbildung, verlassen Ivanovo auf der Suche nach Arbeit in Moskau. Auch die Zahl der Geburten geht weiter zurück. Gleichzeitig erwachen in Ivanovo religiöse Institutionen zu neuem Leben; christliche und moslemische Gemeinden haben Zulauf.
Dabei hatte die Industrialisierung Ivanovos schon Anfang des 18. Jahrhunderts begonnen; damals wurden hier die ersten Manufakturen für Textilien gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Produktion und die Arbeiterbewegung einen großen Aufschwung. In der Russischen Revolution von 1905 war Ivanovo sogar einer der wichtigsten Schauplätze des Geschehens; hier entstand der erste "Sowjet". Um 1935 avancierte die Stadt zum Hauptstandort für die Herstellung von Bekleidung in der Sowjetunion. Die Wirtschaft blühte. Doch mit ihrem Wachstum rückte auch die Problematik der Monostruktur immer näher.
Schon in den 1940ern begann die Region Ivanovo, unter einem Mangel an Investition gleich welcher Art zu leiden, da die Fünfjahrpläne der UdSSR alle Kraft auf die Entwicklung der Schwerindustrie lenkten. So geriet die Textilbranche mehr und mehr ins Abseits. Dass dann, während der 1950er, in der Kapitale der Region Betriebe des Maschinenbaus angesiedelt wurden, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass es in den Textilfabriken für Männer nicht genug Arbeit gab.
Schrumpfung, wenn auch verdeckt, hätte man in Ivanovo folglich schon damals beobachten können. Aber erst mit dem Ende der Sowjetunion stürzte die Stadt in eine beispiellose wirtschaftliche Krise, von der die Textilindustrie besonders hart getroffen wurde. Die Baumwolle aus Usbekistan blieb aus. Der Absatz stockte, weil es plötzlich westeuropäische und fernasiatische Anbieter von Bekleidung gab. Der heftige "Übergang" von der Plan- zur Marktwirtschaft ließ das Volumen der Produktion sinken: 1998 betrug es nur 22 Prozent des Stands von 1989. Allerdings stieg es gegen Ende der 1990er wieder kräftig an. Der wichtigste Grund für die vorherige Entwicklung war, dass im Russland des Postsozialismus die Herstellung von Textilien und Maschinen nicht mehr zählte, sondern allein die Ausbeutung von Rohstoffen und die Branche der Kommunikationstechnologien noch ökonomische Prosperität sicherten. Die Großbetriebe der Region Ivanovo aber litten unter dieser Verschiebung. Ihre volle Kapazität können sie seither nur zu kleinen Teilen nutzen.
Die Großstädte der Russischen Föderation kennzeichnet, in Bezug auf ihre Wirtschaft, eine doppelte Bewegung: einerseits die Fortdauer ererbter sowjetischer Strukturen, andererseits die Entwicklung neuer, teils improvisierter Low-level-, teils investitionsintensiver, an globalen Vorbildern orientierter High-level-Standorte. Ivanovo aber fehlen avancierte Industrien welcher Branche auch immer. Zwar entstanden aufgrund der radikalen Privatisierung - allein 1993 wurden im Bezirk Ivanovo 461 Betriebe entstaatlicht - viele neue Unternehmen, doch setzt die Statistik den informellen Sektor nach wie vor mit immerhin einem Viertel der gesamten Tätigkeit an.
Demographie ///
Seither jedoch verzeichnet die Region einen starken Rückgang an Geburten, während die Sterbezahlen steigen. Der Anteil der Frauen an der Bevölkerung Ivanovos ist mit 55 Prozent recht hoch. Da sie im Schnitt zehn Jahre länger als Männer leben, wird er vermutlich noch steigen. Den Verlust an Bewohnern kann Ivanovo kaum durch den Zuzug von Menschen aus den Dörfern und Städten des Umlandes mildern. Migranten aus den südlichen der früheren sowjetischen Republiken oder aus Asien sind nicht willkommen.
Stadtentwicklung ///
Erst die extreme Zunahme der Bevölkerung Ivanovos zwischen 1920 und 1980 machte beim Wohnungsbau eine andere, dauernde, riesige Anstrengung notwendig. Unter den Parteichefs Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew wurden seit Mitte der 1950er Siedlungen mit mächtigen Wohnscheiben und Wohntürmen errichtet, zwar am Stadtrand, doch in aller Regel so, dass die Einkaufs- und Arbeitsstätten mit Omnibus gut erreichbar waren.
Heute erleidet Ivanovo soziale Polarisierung und Segregation wie nie zuvor. Den Phänomenen gesellschaftlicher Desorganisation - im Frühjahr 2003 kam es zu einer Brandschatzung der Shopping Mall in der früheren "Textilfabrik 8. März" - steht freilich die im Vergleich zu ostdeutschen Großstädten enorme Energie entgegen, die einzelne Personen und ganze Gruppen in das tägliche Überleben stecken.
Unterdes erlebt auch Ivanovos Stadtraum einen Wandel. Teile der weiten, oft spärlich grünen Gelände, die typisch für die großen Städte des Sozialismus sind, werden nun auch privat genutzt. Viele dieser Außenräume wurden seit den 1990ern verdichtet, zuerst durch Kioske und Pavillons an den Verkehrsknotenpunkten, später durch Bürobauten und Supermärkte, von denen einige schon wieder verlassen wurden. Gleichzeitig gaben Betriebe ihre Kulturhäuser, Kinosäle und Kindergärten an die Kommune. Manche stehen leer; manche fanden eine neue Nutzung.
Mehr als die finanzschwachen Akteure der städtischen Verwaltung steuern korporative Arrangements und lobbyistische Strukturen die räumliche und bauliche Entwicklung Ivanovos. An die Stelle zentraler Planungen aus Moskau treten hier wie in anderen russischen Großstädten größere und kleinere Eingriffe, Neubauten, Anbauten, Umbauten. Ein buntes Bild. Und sei es nur durch frische Farbe auf der einst schmutzigen Fassade.
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