Hypothesen ///

Hypothesen zum städtischen Schrumpfen im 21. Jahrhundert /// von Philipp Oswalt, Projekt Schrumpfende Städte

1. Im 21. Jahrhundert wird die historisch einmalige Wachstumsepoche, die mit der Industrialisierung vor 200 Jahren begann, zu Ende gehen. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden sich städtische Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse die Waage halten – wie auch vor der industriellen Epoche.
Seit 1800 hat sich die Anzahl der Menschen auf der Erde, die in Städten leben, um das 175fache vermehrt – ein unvergleichlicher Wachstumsprozess. In den nächsten 50 Jahren wird sich die Anzahl der Stadtbewohner nochmals verdoppeln, doch damit werden zugleich die Wachstumsprozesse zu einem Ende kommen.
Nach Vorhersagen der UN wird sich die Weltbevölkerung um 2070 bei ca. 9 Milliarden Menschen stabilisieren und nicht weiter anwachsen. Zugleich werden gerade in den bevölkerungsreichen Ländern wie China und Indien die Verstädterungsprozesse weitgehend abgeschlossen sein, mehr als Dreiviertel der Weltbevölkerung wird in Städten leben. Damit kommt eine 300-jährige Periode eines historisch einzigartigen Wachstums zum Ende. Ihr folgt nicht eine Phase der Stagnation, sondern ein dynamischer Transformationsprozess bei zunehmender Polarisierung. Wachstums- und Schrumpfungsentwicklungen werden sich die Waage halten und gegenseitig bedingen.
Während städtische Schrumpfungsprozesse im 20. Jahrhundert vor allem aufgrund von räumlichen Polarisierungs- und damit Verlagerungsprozessen oder lokalen Krisen erfolgten, wird im 21. Jahrhundert in vielen entwickelten Industrieländern die städtische Bevölkerung insgesamt zurückgehen.
Wesentliche Ursachen der Schrumpfung waren in den entwickelten Industrieländern bislang Suburbanisierung (regionale Verlagerung von Aktivitäten und Menschen ins Umland der Städte), Metropolitanisierung (landesweite Verlagerung von Aktivitäten und Menschen zu den großen städtischen Ballungsräumen) und Deindustrialisierung (Krise monoindustriell ausgerichteter Standorte). Im 21. Jahrhundert wird in vielen Industrieländern die Gesamtbevölkerung und mit ihr auch die Anzahl der Stadtbewohner landesweit zurückgehen. In diesen Ländern werden sich die Schrumpfungsprozesse im Vergleich zum 20. Jahrhundert zuspitzen. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung geht man in Ländern wie Japan etwa davon aus, dass trotz steigender Produktivität auch die Gesamtwirtschaftsleistung rückläufig sein wird.


2. Während bislang das Denken der modernen Gesellschaften wesentlich von Wachstumsvorstellungen geprägt war und Schrumpfen als Unfall und Ausnahme betrachtet wurde, wird sich in Zukunft eine Kultur des Schrumpfens entwickeln.
Schrumpfen wird in Zukunft ein ebenso selbstverständlicher Entwicklungsprozess sein wie Wachsen. Dabei wird es zunehmend seine bisherige Stigmatisierung verlieren und als ein Szenario gesehen werden, dass neben Nachteilen auch Vorteile birgt und zu eigenen Formen der Erneuerung und Veränderung führt. In den Stadtdiskursen in den USA ist mit der Begriffsverschiebung von ‚Urban decay’ und ‚Urban decline’ zu ‚Shrinking Cities’ bereits ein solcher Wertewandel ansatzweise erkennbar. Zugleich bleibt die Schrumpfungstransformation auch langfristig mit gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikten verbunden, wie etwa Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands, Konflikte über tradierte Besitzstände und ihre Kosten etc.

3. Während im 20. Jahrhundert besonders Industrieareale und verdichteter Wohnungsbau von Leerstand und Aufgabe betroffen waren, werden Deurbanisierungsprozesse im 21. Jahrhundert vermehrt Vorstädte und Büroquartiere betreffen.

Bereits heute leidet ein Drittel der Vorstädte in den USA unter Einwohnerverlust, dies bislang meist aufgrund fortschreitender Suburbanisierung in immer entfernter gelegene Vorstädte. In Zukunft werden die Vorstädte an Bevölkerungsrückgängen vor allem wegen  dem Rückgang der Gesamtbevölkerung sowie partiellem Rückzug in die Stadtzentren leiden. Die Erhöhung der Mobilitätskosten sowie die Alterung der Bevölkerung, die damit andere Mobilitätserfordernisse hat, tragen zu den Rekonzentrationsprozessen wesentlich bei.
Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deindustrialisierungsprozesse an vielen Standorten Schrumpfung verursacht hat, werden im Verlauf des 21.  Jahrhunderts Bürostandorte der Dienstleistungsökonomien von Umstrukturierungsprozessen und damit mangelnder Nachfrage betroffen sein. Büroviertel werden damit zu den Brachen des 21. Jahrhunderts.
Während in den Industrieländern die industriellen Produktionsprozesse weitgehend rationalisiert und automatisiert sind und mit nur noch wenig Personal erfolgen, werden zunehmend auch Büro- und Dienstleistungstätigkeiten von Rationalisierungs- und Verlagerungsprozessen betroffen sein. Automatisierung von Bürotätigkeiten, die Verlagerung ins Home office, offshoring und die Ablösung der Büroarbeit vom Büroraum durch das mobile, drahtlose Equipment wird den Raumbedarf an klassischen Bürokomplexen massiv reduzieren.

4. Das Versiegen der Ölquellen und anderer fossiler Energien sowie der Klimawandel werden die globale Siedlungsentwicklung im 21. Jahrhundert maßgeblich beeinflussen.
Der Klimawandel mit seinen heterogenen Auswirkungen wird ein neuer Parameter der Siedlungsentwicklung sein. Während ein Teil bestehender Sieldungsstrukturen nur unwesentlich und zum Teil sogar positiv vom Klimawandel betroffen sein wird, wird eine Vielzahl von Standorten durch heterogene Klimafolgen massiv beeinträchtigt und zum Teil in ihrer Existenz bedroht: Zu den Ursachen gehören unter anderem das Fehlen von Trinkwasser (insbesondere in den ariden Regionen des Südens), Überschwemmungsgefahren (in Küstenregionen), das Auftauen von Permafrostböden (in den nördlichen Zonen), der Verlust von Schnee und Eis in alpinen Tourismusstandorten  (Hochgebirge) etc.
Das Ende der Epoche fossilen Energieverbrauchs wird voraussichtlich zur massiven Verteuerung von Mobilität führen. Da jedoch Siedlungsstruktur, Ansiedlungsentscheidungen und Nutzungsmuster wesentlich vom Faktor der Erreichbarkeit beeinflusst sind, wird die Verteuerung und damit Verknappung von Mobilität zu Siedlungsformen mit geringerem Mobilitätsbedarf führen. Dies kann z.B. zur Aufgabe von äußeren Zersiedlungszonen im nicht hochwertigen Wohnsegment oder auch zum Niedergang von Tourismusstandorten führen, die von Billigfluglinien abhängig sind. Während im 20. Jahrhundert die Verfügbarkeit billiger Mobilität Suburbanisierungsprozesse ermöglicht hat, würde deren wesentliche Verteuerung zu Rekonzentrationsprozessen führen, die jedoch keineswegs eine einfache Umkehrung der vorherigen Zersiedlung bedeuten müssen.
Das Ende des fossilen Zeitalters wirkt sich zudem auf Förderstandorte von fossilen Energieträgern in besonderer Form aus: In der Endphase der Förderung profitieren die Standorte von einem stets ansteigenden Einnahmen. Nach Versiegen der örtlichen Vorkommen müssen sich die Städte jedoch wirtschaftlich völlig neu orientieren. Da die Entwicklung vorhersehbar ist, sind diese Standorte – wie z.B. Dubai oder Schottland - Beispiele für vorbeugende Anti-Schrumpfungspolitiken. Die noch generierten Reichtümer werden in einen gewaltigen Strukturwandel investiert.

5. Schrumpfungsprozesse führen zu dualen Gesellschaften: Stadtentwicklung, Wirtschaftsentwicklung, Lebensstile und vieles mehr unterscheiden sich zwischen den Zonen des Wachstums und der Schrumpfung grundsätzlich.
Während in den wachsenden Stadtregionen das Prinzip der unternehmerischen Stadt bemerkenswerte Entwicklungsdynamiken entfalten kann, sind die Schrumpfungsregionen zunehmend von Deinvestition gekennzeichnet – von einem Kapitalismus ohne Kapital. In den USA symbolisiert das Prinzip des Redlining prototypisch die Exklusion von den etablierten Formen des globalisierten Großkapitalismus. Anstelle der klassischen Wirtschaftseliten von Großunternehmen und Banken treten in den Schrumpfungsregionen lokale, oft gemeinschaftlich organisierte Micro-Unternehmer. In kleinmaßstäblichen Projekten nutzen sie die spezifische örtliche Situation und ihre intensive soziale Vernetzung, und realisieren in dem Prinzip eines „weak urbanism“ mit wenig Kapital nachhaltige Projekte. Die – staatlichen wie privatwirtschaftlichen – Gouvermentalitätsformen und Entwicklungsprozesse unterscheiden sich damit grundlegend zwischen Wachstums- und Schrumpfungszonen. Zugespitzt lässt sich daher von zwei Gesellschaften innerhalb eines Staates sprechen.

6.  Städtebau und Architektur in schrumpfenden Städten stehen grundsätzlich vor neuen Aufgaben. Während das Gebaute bislang als Ziel architektonisch-städtebaulichen Handelns angesehen wird, ist es hier der Ausgangspunkt.
Städtebau hat sich in den letzten 200 Jahren nahezu ausschließlich mit Wachstumsprozessen befasst. Die Epoche der Moderne war von umgreifenden Wachstumsprozessen geprägt, und diese liegen ihren Vorstellungen und Handlungskonzepten, Theorien, Gesetzen und Praktiken zugrunde. So waren Kolonisierung, Stadtgründung, Baulandausweisungen, Neubaugebiete, Erschließung, Bauboom, Stadterweiterung und Dichte Schlüsselbegriffe der Stadtentwicklung der Moderne.
Bauen wird bislang vorwiegend verstanden als Akt der Kolonisierung: der Erschließung und Überbauung neuer Gebiete. Doch nachdem die Industrieländer quasi vollständig urbanisiert sind und ihre Bewohnerschaft stagniert oder schrumpft, hat die Idee der Kolonisation ihre Legitimation verloren. Im „postkolonialen Zeitalter“ geht es eher darum, sich dem über einen langen Zeitraum akkumulierten Gebauten zuzuwenden. Es ist eine Umkehrung des Blicks: das Gebaute ist nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt.

Postarchitektur umfasst die Aufgaben, die sich stellen, wenn die Architektur - das Gebaute -  schon vorhanden ist. Was das Ergebnis einer herkömmlichen architektonischen Praxis ist, ist hier der Ausgangspunkt. Es geht etwa darum, wie das Gegebene wahrgenommen, genutzt, verändert oder entfernt werden kann.
Zugleich müssen im Kontext der Schrumpfung müssen neue Antworten gefunden werden, wie Architektur entstehen kann. Dafür muss das engere Feld der Architektur verlassen werden, die Debatte repolitisiert werden. Es stellt sich die Frage: Wer baut mit welchen Mitteln wofür?

Präarchitektur befasst sich hingegen mit jenen Dingen, die einer architektonischen Praxis vorausgehen, diese überhaupt erst ermöglichen. Dazu gehört zunächst die Wunschproduktion, die Vorstellung von möglichen neuen Baulichkeiten und dem Erwecken des Interesses, diese zu realisieren. Pragmatisch gesprochen gehört zur Präarchitektur die Formierung von Nutzungen, Bauherren und Finanzierung.
Die Notwendigkeit zur Entwicklung neuer „Werkzeuge“ des Planen und Bauens ist vergleichbar zur Situation der klassischen Moderne. Das „Neue Bauen“ der 1920er Jahre wäre undenkbar gewesen ohne die Entwicklung eines ganzen Arsenals an neuen Werkzeugen zur Realisierung von Städtebau und Architektur: Die Formierung der Kommunen und Genossenschaften als neue Bauherren, der Erfindung neuer Nutzungen und die Entwicklung innovativer Besteuerungs- und Finanzierungsmodelle war für das Entstehen der Architektur der Moderne ebenso essentiell wie die Erfindung neuer Baustoffe und Konstruktionsmethoden. In analoger Weise sind für die Gestaltung von Schrumpfungsprozessen neue Werkzeuge zu entwickeln, die überhaupt ein wirkungsvolles Intervenieren ermöglichen.  




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